Gott würfelt nicht

Über das, was kleine Entscheidungen für große Folgen haben können. Im guten, als auch im negativen Sinne. 10 Personen, 10 Leben – voneinander abhängig. Und der Frage, was das eigentlich bedeutet.

NOEL

Es ist kurz vor acht Uhr. Der Mond ist im vollen Glanz strahlend am Himmel zu sehen. Die große Hauptstraße wird kaum noch befahren. Auf den Seitenstraßen sind keine Autos mehr. Nur am Straßenrand stehend, leer. Die sanfte Nachtstille legt sich heimlich über die angrenzenden Dächer, Bäume und Sträucher nieder. Das rot aufleuchtende Supermarkt Schild wird farblos. An den dicken, grauen Steinwänden sind vereinzelt Straßenlampenschattierungen zu erkennen. Hin und wieder auch elegant tanzende Blätterschattierungen, da sie durch die leichten Prisen des Windes hin und her wackeln, im Glanze des Straßenlaternenlichtes. Mit jeder weiteren Böe wird es kühler und umso kühler es wird, desto weniger möchten die Bewohner der Stadt sich draußen aufhalten, deswegen bleiben sie daheim.

Doch Noel ist noch draußen unterwegs. Er sitzt auf seinem Fahrrad, radelt geschwind die Straße entlang in Richtung nach Hause. Heute hat er ein wenig länger arbeiten müssen, denn es gab viel zu tun. Noel hat gerade dieses großes Projekt: Das Baumhaus, von seinem besten Freund und ihm, muss für den kommenden Schnee nächste Woche bereit sein. Letztes Jahr hatten sie keine Vorkehrungen getroffen, deswegen waren beide im Frühling diesen Jahres sehr traurig. Eigentlich hatte er Pläne für heute Abend, er wollte sich mit seiner Oma einen Film angucken. Oma hat Verständnis dafür, wenn er Überstunden machen muss, wegen des Baumhauses. Noel weiß aber auch, dass seine Oma enttäuscht sein wird. Oma würde das nie zugeben, „denn ändern könnte man es jetzt auch nicht mehr“, dass sagt Oma immer. Fast jeden Tag. Noel liebt seine Oma und sie ist gleichzeitig das einzige Familienmitglied, dass abgesehen von ihm, noch am Leben ist. Oma sagt immer, sie geht erst, wenn sie sieht, dass er glücklich ist und sein Leben so verläuft, dass sie mit guten Gewissen gehen kann. Außerdem sagt Oma, dass er schon viel zu früh lernen musste, mit Verlusten umzugehen. „Niemals sollten die Kinder vor den Eltern sterben“, hat sie damals dem Pfarrer erzählt, als seine Eltern starben. Was der Pfarrer daraufhin antwortete, weiß Noel nicht mehr. An jenem Tag hörte er eigentlich kaum jemanden zu, wenn überhaupt nur seiner Oma.

Noel ist noch immer draußen. Er sitzt auf seinem Fahrrad und strampelt rasch, denn die Straße führt bergauf – ein ganzes Stück geht das noch so. Sein Gewissen sagt ihm, dass er das wieder gut machen muss. Denn es ist nicht das erste Mal, dass der Filmabend nicht geklappt hat. Seine Oma kann es nicht alleine, denn sie versteht die Technik nicht. Dieses Netflix und wie sie überhaupt auf das Programm zugreifen kann. Früher war das einfacher, „da gab es nicht so viel Auswahl im Fernseher. Da hat man geguckt, was lief. Wenn es blöd war, ist man halt eingeschlafen“, sagt seine Oma immer. Noel hat es schon mal probiert, seiner Oma beizubringen – doch es funktionierte genauso wie damals, als er ihr zeigen wollte, wie ein Smartphone, explizit für Rentner hergestellt, funktioniert. Letztlich endete dieser Versuch mit Omas zauberhaften Kartoffelsuppe, denn sie bevorzugte es zu kochen, anstatt auf das kleine, aufleuchtende, viereckige Ding zu blicken. Ich nehme mir Urlaub für zwei Tage, denkt sich Noel. Ich nehme mir zwei Tage Urlaub. Zwar muss dann mein bester Freund alleine am Baumhaus arbeiten, aber er würde es bestimmt verstehen. Vielleicht hilft ihm auch sein Papa. Dann kann er ganz viele Filme mit Oma angucken. Es vergehen ein oder zwei Minuten, doch Noel gefällt diese Idee immer noch. Das er da nicht vorher draufgekommen ist. Seine Eltern hatten nicht viel Zeit für ihn, denn bevor sie wirklich Zeit für ihn haben konnten, wurde ihnen die Zeit genommen. Doch seine Mutter führte ein Tagebuch. Natürlich schrieb sie immer weniger dort hinein, umso älter sie wurde. Doch als seine Eltern starben, fand er es im Nachttisch seiner Mutter. In dieses schrieb sie, eine Woche vor dem großen Unglück: „Es ist immer ein Geben und Nehmen.“ In ihrem Kontext bezog es sich auf ihren Chef, doch weiter unten auf der Seite machte sie einen Hinweis der besagte: „Das ist immer so. Nicht vergessen Nina.“

Nina ist nicht mehr da, deswegen hat Noel diese Worte nie vergessen. Seine Eltern wurden ihm genommen, er bekam dafür Oma. Oma hatte er auch schon vorher, allerdings war die Beziehung vorher eine ganz andere, weit davon entfernt, was es jetzt war. Und weil ihm Oma alles gab, was er brauchte und wollte – außer sie hielt davon wirklich gar nichts – war es nun an seiner Zeit, Oma etwas zurückzugeben. Drei Mal hatte er nun versagt. „Das kommt nicht noch mal vor“, schwört er sich. „Versprochen.“ Noel grinst...

EVA

„Grins nicht so dumm“, sagt Eva. Ihr Gesicht ist rot, sie ist wütend. „Jetzt bleib doch stehen und beruhige dich“, entgegnet ihre Freundin. „Du hast mich doch lieb“. „Gerade nicht“, antwortet Eva, macht die Haustür auf. „Ich gehe. Wir sehen uns.“ „Jetzt...“ – doch alles weitere kann Eva nicht hören, denn sie hat die Wohnung verlassen, die Haustür geschlossen und hält kurz

inne. Sie ist den Tränen nahe, doch hat keine Lust zu weinen. „Nicht schon wieder“, denkt sie sich. Sie versucht sich zu beruhigen. Klappt nicht wirklich. Eva läuft los. Es ist kalt geworden, sie hat die falsche Jacke an. Mal wieder. In ihrer rechten Jackentasche kramt sie nach ihren Zigaretten, findet sie aber nicht. Also langt sie in die linke Jackentasche und zum Glück findet Eva die Zigaretten dort. Sie raucht eine, läuft dabei die Straße entlang. Sie kann diese blöde Straße echt nicht mehr ertragen. Wie oft sie schon wütend hier entlang gelaufen ist. Sie zählt schon gar nicht mehr mit. Vielleicht sollte sie lieber hetero werden, dann wäre alles leichter. Nein, natürlich nicht. Da würde sie genauso oft und auch wütend eine andere Straße entlang laufen. Ihr Smartphone klingelt, ihre Freundin ruft sie an. Eva drückt sie weg. Sie hat keinen Bock jetzt. Mit jedem weiteren Schritt beruhigt sie sich ein wenig mehr. Dabei überlegt sie, wie ihre Beziehung weitergehen soll. Was wäre richtig, was wäre falsch – doch sie hat keine Antworten auf diese Fragen. Ihre Gedanken kreisen sich die ganze Zeit darum, als plötzlich ein Auto neben ihr herfährt und die Fensterscheiben runterfahren. Drei Möchtegerngangster sitzen im Auto, der Fahrer hat vermutlich erst seit gestern seinen Führerschein. „Hey Süße, was geht?“ „Meine Beine. Schönen Abend noch“, antwortet Eva knapp und hiermit ist für sie das Gespräch beendet. Doch die drei Typen checken es nicht. „Wohin gehst du denn?“, fragt ein anderer. „Zu so später Stunde alleine unterwegs?“, setzt er fort. „Ja, ich bin mutiger als ihr drei zusammen“, entgegnet Eva. Eigentlich hatte sie jetzt mit Empörung und Beleidigungen gerechnet, doch stattdessen sagt einer: „Oh, sexy. Selbstbewusstsein mag ich. Hab gehört, die Frauen sind am Besten im Bett.“ Ekelhaft“, denkt sich Eva. „Bleib cool“, ist ihr nächster Gedanke. „Das musst du rausfinden, sobald du alt genug bist“, sagt sie. „Kann ich es mit dir rausfinden?“, fragt sie einer der Halbstarken. „Hast du eine Vagina?“, fragt Eva. „Hä, nein warum?“, fragt er verwundert. Eva schaut rüber zum Auto. Sieht die drei jungen Typen, die auf dicke Eier machen. „Die Stadt ist auch nicht mehr das, was sie mal war“, denkt sie und sagt dann: „Ich bin lesbisch. Aus uns wird nichts.“ Die drei Jungs schauen sich an, der eine angewiderter als der andere. Nur einer lacht und sagt: „Nice, kann auch Sex mit zwei Frauen haben!“ Wie oft Eva sich das schon anhören musste. Ja, die Gesellschaft hatte sich weiterentwickelt. Zumindest technisch gesehen. Doch in vielen wichtigeren Dingen, ist die Gesellschaft irgendwann stehen geblieben. „Ne, danke“, antwortet Eva. Dann Stille. Keiner der drei Jungs sagt was, sie schauen Eva nur an. Eva ignoriert die Jungs. Gerade noch hatte sich ihre Laune gebessert, doch jetzt war sie schon wieder auf einem neuen Tiefpunkt. Diese Stadt würde noch ihr Untergang sein. Sie muss hier weg. Eva hört das Zuschlagen zweier Türen und bevor sie sich umdrehen kann, liegt sie auf dem Boden. Sie spürt Tritte in ihre Rippen, in ihr Gesicht. Fäuste in ihren Magen, auf ihre rechte und linke Wange. Jemand stellt sich auf ihre Beine. Jemand fasst ihre Beine und zieht sie auf dem Bürgersteig entlang. Sie schaut nach links, sieht nur verschwommen. Eva sieht wie ein Fuß direkt auf ihr Gesicht stoßt. Hört Gelächter, „Scheiß Lesbe“, das Auto fährt weg. Sie ist bewusstlos.

PAUSE

Schlechtes Fahren. Leichte Schlangenlinien. Laut dröhnende Musik. Die drei Jungs fühlen sich cool. Ihnen gehört die Welt, denken sie. Aber kann man es ihnen übel nehmen? Dort wo sie aufwachsen, herrschen andere Regeln. Sie hatten nicht das Glück, wie andere in ihrem Alter. Sie lernen es von ihrem Umfeld. Sie handeln so aufgrund von Erfahrungen. Erfahrungen, die andere in ihrem Alter nicht machen mussten. „Man hat immer die Wahl, sich zu entscheiden. Nur weil es so ist, heißt es nicht, dass es immer so bleiben muss“, dass hat mal ein Bulle zu den Jungs gesagt. Der hatte aber wohl keine Ahnung, wie schwer der ganze Prozess ist. „Wie die auf dem Boden lag, die Lesbe“, sagt der eine. Zwei Lachen, einer nicht. Einer hat ein schlechtes Gewissen, kann sich nicht erklären, warum er das getan hat. Er hatte doch seiner Mutter versprochen, dass nicht mehr zu machen. „Sonst ist deine Zukunft am Arsch“, hat ihm seine Mutter gesagt. Und sie hat Recht, denn er sieht es bei seinem Bruder. Oder bei dem besten Freund seines Bruders. Oder bei dem zweitbesten Freund seines Bruders. Er möchte doch studieren irgendwann, wenn er das Abitur nachgeholt hat. Will dann reich werden, eine Familie zeugen und in einem hübschen Haus wohnen. Diese Tat heute Abend spricht nicht dafür. Seine Mutter wird enttäuscht sein, wenn die Bullen wieder vor der Tür stehen. Jetzt ist er auch volljährig und dieses Mal hat ihn auch keiner provoziert. Er hat einfach nur mitgemacht, weil er früher immer mitgemacht hat. Und weil er immer mitgemacht hat, hat er heute Abend nicht nachgedacht. Dafür denkt er jetzt nach. Aber jetzt ist es zu spät. „Was ist los? Warum guckst du so?“, fragt ihn sein Kumpel, der noch immer am Lachen ist. „Ich glaub, wir haben Scheiße gebaut.“ „Wegen der Lesbe?“ „Ja.“ „Ach, die wollte das doch so. Hat uns provoziert.“ Er schweigt. Hat sie das wirklich? „Sicher?“, fragt er nach. „Können wir immer noch den Bullen so sagen, aber die traut sich eh nicht. Die wird schweigen.“ Dann Stille im Auto. Er glaubt seinem Kumpel nicht. Heute Abend sind sie einen Schritt zu weit gegangen. Erneut.

GOTT WÜRFELT NICHT – ALBERT EINSTEIN

Eva liegt.
Noel radelt.
Die drei Jungs fahren.
Eva blutet.
Noel friert.
Die drei Jungs lachen.
Sirenen.
Die drei Jungs lachen nicht mehr. Sirenen.
Die drei Jungs schweigen.
Noel friert.
Eva blutet.
Sirenen.
Die drei Jungs fahren. Sirenen.
Noel radelt. Eva liegt.
Eva liegt noch. Noel radelt noch. Laute Sirenen.
Die drei Jungs fahren schneller. Laute Sirenen.
Eva blutet mehr.
Noel friert mehr.
Ganz nah sind die Sirenen.
Die drei Jungs brüllen.
Die drei Jungs fahren noch viel schneller.
Das Polizeiauto fährt noch viel schneller.
Die drei Jungs fahren noch viel, viel schneller. Dass Polizeiauto fährt noch viel, viel schneller. Sehr laute Sirenen.
Eva liegt noch.
Noel fliegt noch.
Die drei Jungs fahren nicht mehr. Das Polizeiauto fährt nicht mehr. Die drei Jungs weinen.
Die Polizisten eilen.
Eva wacht auf...
... der kleine Noel friert nicht mehr.

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U8

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Verweilen in der Erinnerung